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Deutsche Comicforschung

Lesen Sie unten die Besprechung von "Deutsche Comicforschung" 2005 aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Juni 2005 (Nr. 136), S. 37 (Geisteswissenschaften)

Ist der Superheld eine deutsche Erfindung?
Konkurrenz für Amerika: Erstmals erscheint ein Jahrbuch der deutschen Comicforschung

Man konnte sich Halbstarke in der frühen Bundesrepublik wohl gar nicht albern genug vorstellen: Als für ein Quartett junger Leute beiderlei Geschlechts 1961 ein Name gesucht wurde, wählte die Wochenzeitung Das Grüne Blatt in Anlehnung an Choo Choos vorjährigen Erfolgsschlager "Itsy Bitsy Teenie Weenie Honolulu Strandbikini" die Bezeichnung "Tiny-Winys". Reines Hochenglisch war das nicht, aber das darf auch nicht überraschen, wenn man erfährt, daß die Urheber dieser munteren Truppe vermutlich in der DDR saßen. Denn die "Tiny-Winys" sind die Helden einer Comicserie, die von Mai bis August 1961 in zwölf Folgen von der Wochenzeitung abgedruckt wurde, und es gibt gute Gründe, darin ein Werk der Zeichnergruppe um die Legende Hannes Hegen zu erkennen, die in den fünfziger Jahren das DDR-Comicmagazin "Mosaik" ins Leben gerufen hatte.

Bislang war diese kurzlebige Fortsetzungsreihe vergessen, und daß sie nun wieder in Erinnerung gerufen wird, verdankt sich einer erstaunlichen Initiative. Denn in einer Zeit, in der Jahrbücher verschiedenster Disziplinen vermehrt im Internet publiziert werden, durfte man kaum davon träumen, daß es einmal eine Publikation geben würde, die den Titel "Deutsche Comicforschung" trägt und als Jahrbuch ebenjener Wissenschaft ausgewiesen ist. Es ist auch deshalb ein erstaunliches Ereignis, weil der Herausgeber Eckart Sackmann es geschafft hat, den Band in einem opulenten Format und mit einer Fülle gut reproduzierter Abbildungen erscheinen zu lassen - was nicht selbstverständlich ist in einem Metier, wo Fachliteratur oft genug aus finanziellen wie rechtlichen Gründen nahezu bildfrei erscheinen muß.

DDR-Einfluß auf den Westen

Dabei hat Sackmann von zwei Dingen profitiert: Einmal ist er sein eigener Verleger (Verlag comicplus+, Hildesheim), und dann liegt der inhaltliche Schwerpunkt der Beiträge auf Arbeiten, die noch keinen so großen Bekanntheitsgrad erreicht haben, als daß man ernsthafte Schwierigkeiten bei den Bildrechten befürchten müßte. Den Titel des Jahrbuchs muß man ohnehin variieren, wenn man seiner Zielsetzung gerecht werden will: "Forschung zu deutschen Comics" sollte er heißen. Was angesichts des weitgehenden Fehlens von Grundlagenwerken zur deutschen Comicgeschichte (mit Ausnahme von Bernd Dolle-Weinkauffs 1990 erschienener Studie zu den deutschen Comicpublikationen nach 1945) bereits ein Verdienst ist.

Das Jahrbuch will konkret verstanden werden als Forum für all das, was der deutsche Sprachraum an Bildgeschichten hervorgebracht hat, und besondere Aufmerksamkeit soll dabei die nur unzureichend erschlossene Zeit bis 1945 finden. Der Begriff "Comic" wird dabei weit ausgelegt, so daß es gar nicht mehr auffällt, wenn dem Genre kurzerhand eine jahrtausendealte Geschichte bescheinigt wird. Das läßt für zukünftige Ausgaben Erstaunliches erwarten, aber der erste Band setzt dann doch nicht früher an als 1783.

Damals veröffentlichte Joseph Franz Freiherr von Götz sein in Bilder gesetztes Drama "Leonardo und Blandine" als Versuch, ein Theaterspiel möglichst anschaulich auf dem Papier stattfinden zu lassen. Entscheidend sind nicht nur die kargen Verse, sondern mehr noch die jeweils aufwendig in Szene gesetzten Gesten der Kupferstich-Akteure. Dadurch wird tatsächlich ein gemeinsames Text-Bild-Verständnis ermöglicht, das in seiner Unauflöslichkeit der Funktionsweise eines Comics entspricht, auch wenn man auf das oft als besonders typisch angesehene Merkmal der Sprechblase verzichten muß (die drei Jahre später von Schiller in einer eigenhändig illustrierten Freundesgabe an Christian Gottfried Körner Verwendung fand). Aber das illustrierte Drama von Götz ohne weitere Diskussion als "eines der frühesten Beispiele deutscher Comics" durchzuwinken, wie Sackmann es tut, nutzt der Comicforschung wenig, solange die dies rechtfertigende Begriffsbestimmung ausbleibt oder stillschweigend vorausgesetzt wird.

Immerhin ist den insgesamt vierzehn Aufsätzen zu Geschichte und Ästhetik der Bildgeschichte abzulesen, daß der Herausgeber als Spiritus rector des Projekts (und Autor oder Mitverfasser rund der Hälfte aller Beiträge) ein an Scott McClouds geschultes Comicverständnis vertritt, womit eine klare Abgrenzung zur Karikatur, allerdings nur eine unvollkommene zur Bildfolge im allgemeinen etabliert ist. Aussagekräftiger als die eigene Bestimmung ist somit die Auswahl der Themen, die mit dem derzeit offenbar für alle nationale Comicforschung obligatorischen Artikel über den Einfluß der Arbeiten Rodolphe Töpffers im jeweiligen Sprachgebiet einsetzt und über bekannte Themen wie die deutschstämmigen Comiczeichner in der Chicago Tribune der Jahre 1906/07, den Werbezeichner Emmerich Huber, den prägenden Gestalter der "Salamander"-Hefte Heinz Schubel oder den populären DDR-Zeichner Richard Hambach hinaus sich auch unbekannten Persönlichkeiten widmet wie dem Österreicher Carl Storch, der mit seiner Serie "Puckchen und Muckchen" vor allem in den Niederlanden Liebhaber gefunden hat - und das überraschenderweise vermehrt nach dem Zweiten Weltkrieg.

Und es werden einzelne Comics vorgestellt, die tatsächlich als vergessen gelten durften, aber von nicht zu unterschätzender Bedeutung waren, so etwa die aus Amerika stammenden Fortsetzungsserien in der Hamburger Morgenpost, die diese Zeitung gleich nach ihrer Gründung im Jahr 1949 abzudrucken begann, oder auch ein verblüffender Fund aus der Gartenlaube des Jahrgangs 1937, als in einer Zeit, in der man nun wirklich keine größere Sympathie für die als amerikanisch geltenden Comics erwarten durfte, ein sogenannter "Bildroman" namens "Famany - Der fliegende Mensch" erschien, der mit dem Handlungsort New York und einem phantastischen Titelhelden wie ein Superheldencomic daherkommt - aber "Superman" begründete die Gattung erst ein Jahr später.

Steinchen für Steinchen

Solche Funde sind über das reine Kuriosum hinaus wichtige Mosaiksteine bei der Rekonstruktion jener Zeitstimmung, die zur Emanzipation wie zum Eskapismus geführt hat, den die Superhelden als Genre bedeuten. Gleiches gilt unter anderen Vorzeichen für die bereits erwähnten "Tiny-Winys". Gerd Lettkemann sieht in der Serie aus stilistischen Erwägungen heraus eine Auftragsarbeit der westlichen Wochenzeitung an die Gruppe der DDR-Zeichner um Hegen - wobei zunächst ungeklärt bleiben muß, ob die Hauptverantwortung nicht dem 1960 in den Westen übergesiedelten Nikol Dimitriadis zuzuschreiben sein könnte. Auffällig ist jedoch, daß die Serie unmittelbar vor dem Mauerbau offenbar überhastet abgeschlossen wurde - und die Heftigkeit, mit der der von Lettkemann befragte Hegen vor drei Jahren auf die Frage, ob seine Gruppe etwas mit den "Tiny-Winys" zu tun gehabt habe, reagierte: "Jede nicht nachgewiesene Vermutung wäre eine Unterstellung und würde rechtliche Konsequenzen zur Folge haben."

Das alles läßt eine heikle Geschichte hinter dem Comic erwarten, und Klarheit kann das Jahrbuch hier noch nicht schaffen. Aber solche offenen Fragen lassen weitere Bände mit Spannung erwarten. Der Disziplin wird das neue Forum hoffentlich Impulse geben, so daß der Herausgeber seltener selbst zur Feder greifen muß und weitere interessante Themen anregen und sich ums Organisatorische kümmern kann. Die finanzielle Kalkulation ist eng, doch mit Ausnahme des Titelbildes sieht man das diesem schönen ersten Band nicht an. Seine Lektüre und auch seine Ansicht sind eine Quelle nie versiegenden Vergnügens.

Andreas Platthaus

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