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Eckart Sackmann:
Zwischen den Stühlen, oder: Die Wespen

Als Kind habe ich einmal Wespen zugesehen, die in einen Loch im Boden flogen. Das war natürlich interessant. Also nahm ich einen Stock und stocherte in diesem Loch herum. Es kam, wie es kommen musste: Der Schwarm stürzte heraus, und ich nahm die Beine in die Hand. Ich war ein guter Läufer, und so kam ich mit ein paar Stichen davon. Immerhin hatte ich eine Erfahrung gemacht. Wenn ich mich heute mit Comics beschäftige - schon sehr spezialisiert mit den Comics deutscher Tradition - so habe ich immer wieder das Gefühl, in einem Wespennest zu stochern. Informationen vorher nie gekannter Art fliegen mir nur so um die Ohren, aber weglaufen geht nicht. Ich stelle mich, und ich versuche, Ordnung zu schaffen. Das ist mein Vorteil: Ich weiß, wie ich die auf mich einstürmenden Fakten bändigen kann. Ich halte mich an die Quellen, studiere die zugehörige Literatur, folge Querverweisen und höre so viele Meinungen wie möglich, um mir dann ein eigenes Bild zu machen. Aber worin bin ich denn jetzt "Experte" ?

In den 70er und 80er Jahren, als sich die sogenannte "Szene" bildete, wollte man den Comic in seiner Gesamtheit betrachten. Hauptsache, Comic, egal woher und egal wie. Schlagworte wie "Komplettsammler" stammen aus dieser Zeit, in der es eben denkbar war, dieses Gebiet komplett zu sammeln. Heute ist die Szene aufgesplittet in zahlreiche Interessensgebiete: frankobelgisch, Manga, Avantgarde, Superhelden etc. Dieses Phänomen rührt nicht nur daher, dass es heute üblich ist, ausschnitthaft zu lernen, und dass auch die Vermarktung von Kultur zunehmend zielgruppenorientiert verläuft. Es resultiert auch aus einem gewaltigen Überfluss an Informationen, der es gar nicht mehr erlaubt, das Ganze zu verfolgen. Das unsere Gesellschaft kennzeichnende Überangebot betrifft auch den Comic.

"Die Gesellschaft für Comicforschung hat sich zur Aufgabe gemacht, die Comicforschung im deutschsprachigen Raum zu fördern und zu vernetzen. " Comicforschung - was ist das für eine Disziplin? Interdisziplinär will sie arbeiten, aber sie muss ja doch einen Kern haben. Was beinhaltet der? Den Comic weltweit, von Japan bis Argentinien, den Comic komplett, vom Mittelalter bis zum Webcomic, den Comic total, in jeder möglichen Form der Bild-Erzählung, sei es für Kinder, Werbezwecke oder als hohe Literatur, den Comic allround als Ausdrucksform künstlerischer und literarischer Art unter Einbindung des sozialen und politischen Umfelds? Ist das zu leisten?

Macht es nicht Sinn, dass die geschriebene Literatur an den Universitäten verschiedene Disziplinen einnimmt: Anglistik, Amerikanistik, Romanistik, Neuere deutsche Literatur, Germanistik? Ist der Bereich Comic so überschaubar, dass wir das alles unter einen Hut kriegen und die Kunstgeschichte, Zeitungswissenschaft, Volkskunde, Geschichtswissenschaft und Soziologie dazu?

In welcher Art und Weise präsentiert sich die Comicforschung derzeit? Einmal im Jahr ein Band "Deutsche Comicforschung" und eine Tagung - das reicht nicht aus. Wenn wir den Comic auf Augenhöhe mit anderen kulturellen Ausdrucksformen sehen wollen, brauchen wir nicht nur Forschung, sondern auch Lehre. Wir brauchen nicht nur Festivals, sondern auch Bibliotheken mit Primär- und Forschungsliteratur. Wir brauchen Sammlungen von Originalen und eine Dokumentation des Umgangs mit dem Comic. Wir brauchen potente Geldgeber, Befürworter und einen Stamm von Fachleuten, die Comicforschung nicht nur am Rande "mit erledigen" , sondern als ihre vordringliche Arbeit und Aufgabe betrachten.

Ich plädiere deswegen dafür, die Institutionalisierung der Comicforschung genauso wichtig zu nehmen wie die Erforschung des Themas. Für eine wissenschaftliche Arbeit mit der Bild-Literatur ist der Anschluss an die Universitäten Voraussetzung. Die werden uns - bei aktueller Unterordnung der Geisteswissenschaft unter "gewinnbringende" Fachbereiche - nicht mit offenen Armen empfangen, und schon gar nicht mit offenem Portemonnaie. Ich denke an einen frei finanzierten Lehrstuhl. Anbieten würde sich dann ein Anlehnen an das Frankfurter Institut für Jugendbuchforschung. Hier ist in den vergangenen Jahrzehnten ein Grundstock gelegt worden. Allerdings darf der Comic sich nicht als Kinderlektüre darstellen: Wir brauchen ein Institut für Comicforschung.

Ich strebe an, ein solches Institut über Stiftungsgelder zu finanzieren. Ein finanzieller Rahmen von wenigstens 10 Millionen Euro böte die Chance, die Bild-Literatur - erstmals in der langen Geschichte dieser literarisch-künstlerischen Ausdrucksform - nach wissenschaftlichen Kriterien zu untersuchen und abzubilden. Forschung und Lehre müssen Hand in Hand gehen, Veröffentlichungen und Ausstellungen sind das Desiderat. Natürlich - um den Bogen wieder zu schließen - ist die deutsche Comicforschung nicht isoliert zu betreiben, sondern im internationalen Kontext. Dennoch wäre es wohl sinnvoll, einen eigenen, auf den deutschen Sprachraum konzentrierten Beitrag zu leisten und sich auf die eigene Comic-Geschichte zu besinnen. Im Zeitrahmen von fünf bis zehn Jahren sollte die genannte Perspektive zu erreichen sein.


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