Zurück zur Startseite comicforschung.de   Startseite Tagung

Stephan Köhn:
Japan als Bild(er)kultur

Erzähltraditionen zwischen visueller Narrativität narrativer Visualität

Manga und Anime haben sich nicht nur unlängst einen festen Platz in fast allen größeren Buchhandlungen und den meisten privatrechtlichen Fernsehkanälen hierzulande sichern können, sondern inzwischen sogar auch Eingang in die deutsche Sprache gefunden. Das Besondere an diesen Bilderwelten made in Japan ist, dass sie in deutlichem Gegensatz zu ihren europäischen und amerikanischen Counterparts den üblichen Rahmen einer vornehmlich passiven Rezeption weitestgehend gesprengt haben. Manga und Anime haben sich zu einem festen Bestandteil einer sich regelmäßig erneuernden Jugend- und Subkultur entwickelt, die beispielsweise auf speziellen Internetforen über aktuelle Serien und Trends debattiert, auf Cos(tume)play-Conventions in die Rolle ihrer Lieblingscharaktere schlüpft oder auf Amateurzeichnermessen ihre selbst geschaffenen Bilderwelten präsentiert. Manga und Anime verkörpern dabei einen zumindest temporär schicken, coolen Lifestyle, bei dem gerade der aktive Umgang mit dem Medium von allergrößter Bedeutung für die Rezipienten zu sein scheint. Die große Popularität, die Manga und Anime inzwischen im Ausland erlangt haben, wird auch von der japanischen Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Der frühere Außen- und heutige Premierminister Japans, Asô Tarô, selbst ein bekennender Manga-Fan, betont in seiner viel zitierten Rede an der Digital Hollywood University in Tôkyô im Jahr 2006, dass sich Manga und Anime zu einer unleugbaren Softpower entwickelt hätten, die nicht nur als Kulturbotschafter (bunka taishi) das technokratische Ansehen Japans in der Welt maßgeblich verbessern, sondern auch als popkultureller Rezeptionsfilter der angeschlagenen japanischen Wirtschaft zum weiteren Produktplacement wertvolle Dienste leisten könne. Vor allem dem Manga kommt in dieser Vision eine Schlüsselrolle zu, scheint er doch einerseits von einer einzigartigen kulturellen Homogenität und andererseits von einer ungeahnt langen Geschichte zu zeugen, die mit ihrer Ahnengalerie ihresgleichen in der Popkultur suchen können soll.

Die überschwängliche Begeisterung für den Manga, die zur Förderung eigener Forschungsgruppen, zum Aufbau spezifischer Manga-Studiengänge und sogar zur Schaffung eines internationalen Manga-Preises geführt hat, erweist sich aber häufig als ein zweischneidiges Schwert, fördert sie doch bestimmte Formen des Kulturnationalismus und der Ideologisierung des bestehenden Fachdiskurses. Gerade die Spurensuche nach den Wurzeln des Manga innerhalb der japanischen Kulturgeschichte, die seit den Anfeindungen und Diffamierungen des Mediums in den 1960er und 70er Jahren von Seiten japanischer Pädagogen und Psychologen zu einem der wichtigsten Anliegen zur Legitimierung des eigenen Untersuchungsgegenstandes innerhalb der einschlägigen Literatur avanciert war, beschäftigt selbst heute noch zahlreiche Autoren. Auffällig ist dabei, dass - früher wie heute - die in erster Linie ideologisch motivierte Rückführung der Manga-Tradition auf hehre Vorbilder der guten alten Vergangenheit wie z. B. Bildrollen aus dem 11. Jh., Deckenfresken aus dem 8. Jh. oder gar Grabwandmalereien aus dem 6. Jh. im Mittelpunkt steht, mit dem klaren Ziel, den Manga in den Sphären allgemein anerkannter high culture zu verorten. Und der jüngste internationale Erfolg künstlerischer "Grenzgänger" zwischen high und low culture wie MURAKAMI Takashi oder NARA Yoshitomo, der in Japan erneut die Diskussion um Manga als neue Kunstdisziplin entfacht hat, scheint dieses Vorgehen mehr als ausreichend zu rechtfertigen.

Die unüberschaubare Fülle und Vielfalt der in Japan produzierten und inzwischen in weite Teile der Welt exportierten mangaesken Bilder stellt - zugegebenermaßen - für alle Beteiligten eine nahezu unwiderstehliche Versuchung dar, die Erfolgsgeschichte des Manga mittels kultureller Überhöhungen und nationaler Identitätskonstrukte zu erklären. Doch wie mangaesk war die japanische Kulturgeschichte tatsächlich? Welcher Stellenwert kam dem Erzählen mit Text und Bild tatsächlich zu? Und welche Erzählstrategien wurden dabei verfolgt?

Im Folgenden soll, da selbst jüngste Beiträge zum Thema Manga immer noch in ideologische Fallen des japanischen Diskurses tappen, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ein kritischer Blick auf die Geschichte des japanischen Manga geworfen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Erzählen mit Text und Bild aufgezeigt sowie die Gründe für die Paradigmenwechsel erläutert werden.

Homogenisierung und Diversifikation der Nachkriegszeit

Das, was heute unter dem international gängigen Label Manga inzwischen in weiten Teilen der Welt einen relativ hohen Bekanntheitsgrad erlangt hat, nämlich visuell äußerst komplexe, semiotisch hoch kodierte Geschichten aus Japan, die meist in ungeahnt epischer Breite mit mehreren tausend Seiten die unterschiedlichsten fiktionalen und nicht-fiktionalen Stoffe für nahezu jede Alters- und Gesellschaftsschicht behandeln, ist ein relativ junges Phänomen. Erst mit der Konzeption und Gründung zahlreicher neuer Wochen- und Monatsmagazine Mitte der 1960er Jahre konnte die Alters-, Geschlechts- und Themenspezifizierung, wie sie heute sicherlich als charakteristisch für den Manga zu erachten ist, vorgenommen werden. Und bezeichnenderweise war gerade unter dem neuen, internationalen und vor allem weniger antiquiert klingenden Label Komikku, das nun zugunsten des traditionellen Labels Manga in zahlreichen Zeitschriftentiteln wie z. B. Komikku magazine oder Yangu komikku Verwendung fand, eine Homogenisierung der Narrationstechniken und eine Diversifizierung der Produktpalette gelungen, die das Erzählen mit Text in Japan erst zu dem werden ließ, was es heute unter der - vor allem im Ausland bevorzugt verwendeten Bezeichnung - Manga ist. Doch wie sah es vor dieser Amalgamierung aus? Nach Ende des Zweiten Weltkriegs lag das japanische Buch- und Verlagswesen sprichwörtlich in Schutt und Asche. Die großen Verlagshäuser in Tôkyô und Ôsaka waren fast ausnahmslos zerstört, und Papier und Druckerschwärze wurden aufgrund strenger, zensurbedingter Kontingentierungen durch die Alliierten Truppen Mangelware. Doch dieses Vakuum an Printmedien wurde schnell gefüllt. Bereits ein halbes Jahr nach Kriegsende entstand eine Vielzahl von Ein- oder Zweimannbetrieben, die teils über illegale Distributionswege, teils über geschicktes Papierrecycling den Druck von Büchern und Heften wieder aufnehmen konnten. Bemerkenswert sind hierbei sicherlich zwei Fakten: erstens, dass es sich bei diesen Druckerzeugnissen vor allem um illustrierte Geschichten handelte, die in der Anfangszeit nur aus 20-25 Seiten bestanden und aufgrund ihres auffälligen grellroten Einbandes unter der Bezeichnung Rotbuchmanga (akahon manga) verkauft wurden; und zweitens, dass die anvisierte Zielgruppe der Rotbuchmanga in erster Linie Kinder waren, weshalb sie nicht über den üblichen Vertriebsweg verkauft wurden, sondern in Süßwarengeschäften und auf Jahrmarktständen angeboten wurden, Lokalitäten also, die für Kinder leicht und vor allem auch ohne Begleitung von Erwachsenen aufgesucht werden konnten. Mit zunehmender Popularität stieg jedoch in kurzer Zeit auch der Preis der Rotbuchmanga drastisch. Da nur die wenigsten Kinder über die erforderlichen finanziellen Mittel zum Kauf eines Heftes verfügten, war die Aufnahme der Rotbuchmanga in das Sortiment der Leihbuchhändler, ein Gewerbe, das in Japan auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickte und deshalb über ein landesweit gut funktionierendes Netzwerk verfügte, für alle Beteiligten ein gutes Geschäft. Vor allem die Klein- und Kleinstverlage verzeichneten nun durch die Leihbuchhändler einen festen Absatz, der erstmalig Planungssicherheit für weitere ambitionierte, d.h. voluminöse, Produktionen bot. Obwohl Ende 1946 bzw. Anfang 1947 auch etliche größere Verlagshäuser wieder ihre Arbeit aufnahmen und die ersten Monatsmagazine für Kinder wie "Jungen-Club" (1946), "Jungen" (1947), oder "Jungenillustrierte" (1948) herausbrachten, konnten sich die Kleinverlage für Rotbuchmanga über Jahre hinweg halten. Denn der Markt hatte eine duale Struktur angenommen, der eine Koexistenz problemlos ermöglichte: Während sich über den normalen Buchhandel beziehbare Magazine auf Fortsetzungsgeschichten spezialisierten, konzentrierte sich nämlich der Leihbuchhändlermarkt auf längere, in sich abgeschlossene Geschichten.

Auffällig ist, wie ein Blick in die entsprechenden Publikationen zeigt, dass die gedruckten Geschichten in dieser Zeit alles andere als ein homogenes Erscheinungsbild aufwiesen. Zum einen dominierten hier natürlich so genannte Manga den Markt. Während in den einschlägigen Magazinen publizierte Manga meist nur einige wenige Seiten lang waren und primär Episodencharakter unter Beibehaltung eines festen Figurenensembles aufwiesen, maßen zumindest die als Rotbuchmanga veröffentlichten Werke bald schon weit mehr als hundert Seiten und entwickelten, da monographisch veröffentlicht, eine mehr oder minder konsistent narrative Struktur. Doch diese von den großen Pionieren der Nachkriegszeit wie beispielsweise TEZUKA Osamu (1928-89) geschaffenen Story-Manga steckten verglichen mit dem, was heute als typisch mangaesk bezeichnet wird, immer noch weitgehend in den medialen Kinderschuhen. Typisch sind die meist linear, in der Regel auf drei waagrechte Spalten verteilten, symmetrischen Panels - eine Aufteilung, die später für den shônen manga charakteristisch werden sollte -, in denen die stark an die Ästhetik früher Disney-Comics angelehnten Figuren zu agieren hatten. Vor allem TEZUKA hat sich, wie bereits vielfach in der Sekundärliteratur hervorgehoben, um eine stete Erweiterung des visuellen Formeninventars bemüht, in dem über kurze Panelsequenzen Kamerafahrten simuliert werden, vereinzelt mit dem Panel als Strukturelement durch Deformation, Durchbrechung oder vollständiger Entrahmung experimentiert und die szenische Dramaturgie durch quantitative Zunahme und qualitative Ausdifferenzierung von auditiven und visuellen Metaphern gesteigert werden. Doch die narrative Konzeption der Geschichten, die sich häufig auf literarische oder filmische Subtexte stützen, bleibt von diesen graphischen Innovationen nahezu unberührt. Die Figuren wirken innerhalb der streng linear verlaufenden Handlung flach und puppenhaft; Anthropomorphisierungen und plakative Gut-Böse-Schemata, die gerade bei TEZUKA deutlich das übergroße Vorbild DISNEY durchschimmern lassen, richteten sich hier vor allem nach Geschmack und Erwartung eines sehr jungen Lesepublikums.

Zum anderen konnten aber auch so genannte Bildgeschichten (emonogatari) in der Nachkriegszeit einen immensen Marktanteil für sich beanspruchen. Bis weit in die 1950er Jahre hinein machten diese - zusammen mit ganz unbebilderten Fortsetzungsromanen für Jugendliche - immerhin mehr als 50% der veröffentlichten Titel in den großen (Manga-)Magazinen aus. Im Gegensatz zum Story-Manga verzichteten Bildgeschichten in der Regel auf das Einstreuen humoristischer Elemente und setzten stattdessen ganz auf Spannung und Dramatik des Geschilderten. Auffällig ist zunächst die klare Trennung von Text und Bild. Der meist durchnummerierte Text ist außerhalb der Abbildung platziert und enthält sowohl Erzähl- als auch Dialogtext. In einigen Fällen sind Text und Bild in Art eines 4-Panel-Strips neben- oder untereinander angeordnet, in anderen Fällen finden sich jedoch aufwändige Seitenmontagen mit mehreren verschachtelten Text- und Bildelementen. Bemerkenswert ist hier die epische Breite, die dem Handlungsgeschehen von den Künstlern eingeräumt wird. Die Dialoge sind oft sehr komplex gehalten und vermitteln dadurch trotz des vornehmlich aktionsbetonten Rahmengeschehens einen Einblick in das seelische Innenleben der Protagonisten. Der Erzähltext wiederum weist einen recht hohen Grad an Literarizität auf, sowohl hinsichtlich des verwendeten Vokabulars als auch in Anbetracht des Satzbaus. Zu jedem einzelnen der Textabschnitte gehört eine eigene Abbildung, die einen bestimmten Moment innerhalb der jeweils geschilderten Szene einfängt und atmosphärisch verdichtet. Auffällig ist ferner der verwendete Zeichenstil. Die Abbildungen werden bestimmt von einer kräftigen Linienführung und einer Fülle an dezidiert eingesetzten Schraffuren, durch welche Figuren und Hintergrund äußerst realistisch in Szene gesetzt werden.

Die Popularität der Bilderzählung zeigt sich besonders deutlich an einem der bedeutendsten Vertreter dieses Genres, YAMAKAWA Sôji (1908-92). YAMAKAWA, der sich vor allem mit seinen freien Tarzan-Adaptionen einen Namen gemacht hatte, erzielte beispielsweise mit seinem Werk "Der Jungenkönig" (Shônen ôja), das von 1947-57 als Fortsetzung erschien und geschätzte 500.000 verkaufte Exemplare vorweisen konnte, einen noch größeren Erfolg als TEZUKA mit seinem ebenfalls 1947 erschienenen legendären Rotbuchmanga "Die neue Schatzinsel" (Shin Takarajima). Und sein Nachfolgewerk, "Der Junge Keniya" (Shônen Keniya), entwickelte sich sogar zu einem so erfolgreichen Longseller, dass insgesamt 1339 Folgen erscheinen konnten, die anschließend in 13 Sammelbänden publiziert noch einmal durchschnittlich 100.000 verkaufte Exemplare pro Band erzielten. Entscheidend für den Erfolg der Bilderzählung war dabei das tendenziell anspruchsvollere Sujet und Setting der Geschichten. Weltraumsagas wie beispielsweise "Erde SOS" (Chikyu SOS) oder "Der schwarze Planet" (Daiankokusei) von KOMATSUZAKI Shigeru (1915-2001) entführten ihre Leser in narrativ komplexe ferne Welten, wie sie der Story-Manga zu dieser Zeit bei weitem noch nicht bieten konnte. Story-Manga und Bilderzählung bedienten somit ganz unterschiedliche Leseerwartungen, welche eine Koexistenz dieser beiden Erzählformen über einen relativ langen Zeitraum ermöglichte.

Ende der 1950er Jahre geht jedoch schließlich das Zeitalter der Bilderzählung zu Ende. Einerseits konnte der Story-Manga mit dem Aufkommen der ersten Wochenzeitschriften "Wöchentlicher Jungensonntag" (Shûkan shônen sandê ) und "Wöchentliches Jungenmagazin" (Shûkan shônen magajin) in den Jahren 1958/59 narrativ komplexer werden, da durch den neuen Publikationszyklus mit einem Mal mehr Seiten für die Ausführung zur Verfügung standen und entsprechend von den Künstlern gefüllt werden mussten. Andererseits führte die von TATSUMI Yoshihiro 1956/57 ins Leben gerufene Künstlerbewegung der Dramatischen Bilder (gekiga) dazu, dass nun erstmals auch Werke explizit für Erwachsene geschaffen wurden, die mit ausgeklügelter Dramaturgie, psychologischer Tiefe und betont filmischer Kameratechnik eine ganz neue Form der Komplexität und Literarizität in das Erzählen mit Text und Bild brachten. Die ehemalige Leserschaft der Bildgeschichten wechselte letztlich zu den anspruchsvollen Erzählformen des komikku, der nun mit neuen Monats- und Wochenmagazinkonzepten der 1960er Jahre für jede Altersschicht und Interessenlage etwas zu bieten hatte.

Einführung westlicher Erzähltechniken in der Vorkriegszeit

Verfolgt man nun die Geschichte des (Story-)Manga weiter zurück, so verlieren sich die Spuren bereits zu Beginn der 1920er Jahre. In den großen Tageszeitungen konnte sich zwar die von Charles WIRGMAN und George BIGOT nach Japan eingeführte Technik der Karikatur in Form von 1- und 4-Panel-Strips, bei denen der Text jedoch außerhalb der Abbildungen stand, bereits Ende des 19. Jahrhundert einen festen Platz sichern, doch dauerte es noch rund zwei Jahrzehnte, bis auch die ersten Text-Bild-Geschichten in Japan erschienen. Bemerkenswert ist hierbei, dass von Anfang an zwei sehr unterschiedliche Erzählkonzepte nahezu gleichzeitig in Erscheinung getreten waren. Im Jahr 1923 veröffentliche MIYAO Shigeo seine Samuraigeschichte Mangatarô , die von den Abenteuern, die der junge Samurai Mangatarô auf seiner langen Reise zum bedeutendsten Schwertkampfturnier im Süden Japans zu meistern hat, berichtet. MIYAO versieht dabei die durchnummerierten kurzen Textabschnitte seiner anspielungs- und wortwitzreichen Reiseerzählung jeweils mit einer kleinen, hier noch ganz in der Tradition der Karikatur stehenden Illustration. Und nur ein Jahr später veröffentlichen ODA Shôsei und KABASHIMA Katsuichi "Shôchans Abenteuer" (Shôchan no bôken), eine Auftragsarbeit für den Verleger SUZUKI Bunshirô, der einen japanischen Comic nach von ihm selbst aus Amerika mitgebrachten Vorlagen in seiner Zeitung drucken wollte. Neu an "Shôchans Abenteuer" war nun, dass das Format des 4-Panel-Strips erstmalig zur Wiedergabe eines etwas längeren, zusammenhängenden Plots verwendet wurde und dass zumindest der Dialogtext mittels der dem amerikanischen Comicstrip entlehnten Sprechblase in die Abbildung platziert werden konnte, während der Erzähltext noch traditionell neben den Panels zu stehen hatte. Die aus Amerika übernommene Form des Erzählens mittels Sprechblase entwickelte sich im Lauf der nächsten Jahre rasch weiter. SHISHIDO Sakô, der zurück von einem neunjährigen Amerikaaufenthalt in Japan ebenfalls Comics zu zeichnen begann, zeigte mit seinem Werk "Speedtarô" (Supîdotarô , 1930-33), dass Speedtarôs Verbecherjagden durchaus auch ohne bildexternen Text verständlich geschildert werden konnten und dass - wenngleich diese Experimentierfreudigkeit zunächst keine Nachfolger gefunden hatte - ein kreativer Paneleinsatz entscheidend Tempo und Dynamik des Geschehenen zu steigern vermochte. Und TAGAWA Suihô stellte mit seiner Tierparabel Norakuro (1931-41), die vom Aufstieg des Hundes Norakuro vom einfachen Gefreiten zum General erzählt, eindrucksvoll unter Beweis, dass sich auch alleine über Sprechblasen äußerst erfolgreich eine lange, d.h. zehn Jahre fortgesetzte, Geschichte erzählen lässt.

Doch trotz des großen Erfolges des Erzählformates Manga erfreute sich auch die klassische Erzählweise mit getrenntem Text und Bild nach wie vor einer großen Beliebtheit bei den Lesern. Hits wie SHIMADA Keizôs "Abenteurer Dankichi" (Bôken Dankichi, 1933-39), in dem die Abenteuer des schiffbrüchigen Dankichi auf einer Südseeinsel geschildert werden, verdeutlichen vielmehr, dass sich die Autoren zwar durchaus der neuen Stilelemente des Manga bedienen konnten, diese aber anscheinend nicht als adäquat zur Schilderung ihrer eigenen Geschichten erachteten, weshalb diese im Falle SHIMADAs lediglich an zwei Stellen als eine Art parodistischer Metakommentar zum Einsatz kommen.

Der Grund für die sicherlich überraschend ungebrochene, letztlich bis Ende der 1950er Jahre reichende Popularität des Erzählformates Bilderzählung ist in der Breitenwirksamkeit eines Unterhaltungsmediums zu suchen, das sich vermutlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgebildet und dann spätestens ab den 1920er Jahren ganze Generationen von jungen Zuschauern nachhaltig geprägt hat: das Papiertheater (kamishibai). Hierbei handelte es sich um eine aus dem Schaustellergewerbe weiterentwickelte Form des Erzählvortrags, bei dem in der Regel ein Set von 10 bis 20 Bildern, meist in den Standardformaten B4 oder A3, von einem Vorführer in einen Holzrahmen gesteckt und dazu eine Geschichte vorgetragen wurde. Die immer größer werdende Nachfrage nach visueller Unterhaltung - ein Kinobesuch war für die weniger privilegierten Schichten unbezahlbar gewesen - führte dazu, dass Papiertheatervorführungen nicht mehr länger nur auf zeitlich und örtlich begrenzten Jahrmärkten zu finden waren, sondern zu einer regelrechten Dauereinrichtung auf Japans Straßen und öffentlichen Plätzen wurde. Das Papiertheater avancierte schnell zu einem erfolgreichen und höchst professionellen Massenmedium. Eigens auf das Papiertheater spezialisierte Verleger/Verleiher gaben die Bildserien bei einem - in der Regel - festen Stamm von Textern und Malern in Auftrag und verliehen diese dann gegen eine Leihgebühr an die Vorführer. Auf fest zugeteilten Routen bzw. Stadtvierteln gaben diese täglich ihre Aufführungen und verdienten sich ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf von Süßigkeiten, der den Zuschauern anstatt einer Zuschaugebühr einen Platz in den ersten Reihen sicherte. Die große Popularität des Mediums schuf einen immensen Arbeitsmarkt. Für das Jahr 1933 waren alleine in Tôkyô mehr als 2000 gewerkschaftlich organisierte Vorführer gemeldet, und landesweit waren mehr als 90 Verleger/Verleiher, größtenteils mit Sitz in Tôkyô und Ôsaka, tätig. Papiertheater wurde aber nicht nur zu reinen Unterhaltungszwecken auf der Straße aufgeführt. Schnell hatte auch die japanische Regierung das visuelle Potenzial des Papiertheaters erkannt und förderte daher gezielt seinen Einsatz in der schulischen Bildung und der Nachrichtenberichterstattung (ähnlich den hiesigen Wochenschauen).

Die Geschichten des Straßenpapiertheaters deckten das ganze Unterhaltungsspektrum der damaligen Zeit ab. Erwiesen sich Geschichten einmal als erfolgreich, wurden sie gleich über einen längeren Zeitraum fortgesetzt, so dass viele 60 Folgen und mehr zählten, die längste bekannte Serie mit dem Titel Chonchan sogar rund 5200 Folgen hatte. Die Zuschauerbindung funktionierte dabei so gut, dass dies nicht nur dem Vorführer ein weitgehend fest kalkulierbares Einkommen bescherte, sondern den Verlegern mit dem Verkauf der bekanntesten Serien als Set mit Bildtafeln und Schallplatte für das Nachspielen zuhause noch eine zusätzliche lukrative Einkommensquelle eröffnete. Um den geschätzten täglichen Bedarf von ca. 2500 neuen Bildern decken zu können, mussten ständig neue Zeichner für das Papiertheater rekrutiert werden. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass viele talentierte Zeichner zunächst für das Papiertheater gezeichnet hatten, bevor sie dann als Mangaka berühmt wurden (z. B. Shirato Sanpei, Mizuki Shigeru) bzw. bereits etablierte Zeichner aus den Bereichen Manga und Bildgeschichte (z. B. Yamakawa Sôji oder Sakai Shichima) als Nebenverdienst auch einmal für das Papiertheater zeichneten. Die Serialisierung der Geschichten bot dabei Raum zur Entfaltung einer gewissen epischen Breite. Der Plot der meisten Geschichten wurde äußerst komplex, die Charaktere durch den verschiedene Stimmen imitierenden Erzähler förmlich zum Leben erweckt und die realitätsbetonten Bilder durch Adaption zahlreicher Techniken aus dem Film wie z. B. Kameraschwenk, variable Perspektive oder Montage immer dynamischer. Für die Zuschauer des Papiertheaters waren die Bildgeschichten somit ein sehr vertrautes Erzählformat, sozusagen eine Art gedrucktes Papiertheater. Der neben die Abbildung platzierte Erzähl- und Dialogtext wirkte wie eine Art Libretto aus dem Papiertheater, nur dass diesmal die Leser die Handlung zum Leben erwecken mussten.

Auch nach Kriegsende war das Papiertheater das dominante Massenmedium. Während es direkt nach dem Krieg nur noch 6 Vorführer in Tôkyô gab, stieg ihre Zahl Anfang 1946 bereits auf rund 800 und zwei Jahre später sogar auf 2800 an. Das Papiertheater wirkte sich nicht nur stimulierend auf die schnell wachsende Nachfrage nach Rotbuchmanga aus, sondern war auch für den großen Erfolg der Bildgeschichten verantwortlich. Erst als das Papiertheater Ende der 1950er Jahre vom neuen Medium Fernsehen verdrängt wurde und sich eine neue, schnellere Form der visuellen Unterhaltung durchzusetzen begann, verschwanden auch die Bildgeschichten und die Erzählform Manga bzw. komikku bestimmte fortan den Markt.

Traditionelles Erzählen mit Text und Bild

Nachdem sich das vermeintlich Mangaeske der japanischen Kultur überraschenderweise als ein relativ modernes Phänomen entpuppte, dessen Spuren sich im frühen 20. Jahrhundert verlieren, stellt sich nun im Anschluss die Frage, wie in Japan vor dem Import westlicher Comics überhaupt mit Text und Bild erzählte wurde. Die ältesten erhaltenen und ernst zu nehmenden Beispiele stellen Bildrollen, Faltschirme und Mandalas des späten 10. Jahrhunderts dar. In der exklusiven Hofgesellschaft der damaligen Kaiserhauptstadt Kyôto hatten sich neue Formen der Literatur und der Lyrik herausgebildet, die bald zum wichtigsten Zeitvertreib werden sollten. Da Lesen in erster Linie ein geselliger Akt war, kamen bald Bildrollen (emaki) in Mode, bei denen bekannte Geschichten zuerst aus der Literatur, später dann auch aus bekannten Sagen und Legenden aufgegriffen und mit Bild und Text in Szene gesetzt wurden. Ähnlich wie bei den Faltschirmen, auf denen bekannte (Natur-)Gedichte mit der darin evozierten Landschaft abgebildet und zur imaginären Raumerweiterung in den Palastgemächern aufgestellt wurden, oder den Mandalas, auf denen die wichtigsten, manchmal kurz erläuterten Lebensetappen eines Buddhas, Bodhisattvas oder hohen buddhistischen Würdenträgers dargestellt waren, war auch bei den Bildrollen der extratextuelle Bezug der entscheidende Schlüssel zum Verständnis. Denn diese visualisierten Texte waren meist als eine Art szenischer Digest konzipiert, der entweder auf einen dem Leser bekannten Subtext rekurrierte und quasi während der Rezeption - teils in spielerischer Form - von diesem ergänzt werden musste oder aber auf die Ausführungen so genannter Bilderklärer (etoki), eine neue Berufsgruppe, die auf Bestellung in Tempeln oder Adelspalästen entsprechend Bildrollen und Mandalas extemporierte, angewiesen war.

Das ab dem 12. Jahrhundert beginnende Zeitalter des Feudalismus verlagerte jetzt nicht nur das kulturelle Gewicht auf den Kriegeradel, sondern erweiterte dadurch auch den Gesellschaftskreis, in dem Literatur geschaffen und gelesen wurde. Die Fülle an alten und neuen Geschichten unterschiedlichster Themenbereiche wurde nun erstmalig in einem illustrierten Heftformat (Nara ehon), das billiger und handlicher als die Bildrollen war, festgehalten. Auffällig ist dabei, dass hier kein szenisches Aneinanderreihen der Handlungshöhepunkte länger bestimmend war, sondern der Text die vollständige Handlung wiedergab. Mit zunehmender Narrativität des Textes schwand aber anscheinend das Interesse an der Illustration als Informationsträger, denn die wenigen handkolorierten Bilder waren häufig an der falschen Stelle platziert, in einigen wenigen Fällen wiesen sie sogar keinerlei Bezug zur Geschichte auf und dienten ausschließlich einem dekorativen Zweck.

Erst im 17. Jahrhundert vollzog sich der wirklich große narrative Durchbruch für das Erzählen mit Text und Bild in Japan. Verantwortlich hierfür waren einerseits die Professionalisierung des Buch- und Verlagswesens und andererseits das Aufkommen des Kabuki-Theaters als neues Unterhaltungsmedium. Zahlreiche, erstmals privat betriebene Verlage wurden gegründet und begannen mit dem Druck säkularer Werke, die bislang nur handschriftlich kopiert wurden, in großem Stil. Mit dem traditionellen Verfahren des Holzblockdrucks konnten die Verleger nicht nur Werke in Auflagen von mehreren Tausend Exemplaren drucken, sondern auch bedingt durch die geringen Produktionskosten zu einem für weite Schichten erschwinglichen Preis auf den Markt bringen. Vor allem Herstellung und Reproduktion von Abbildungen profitierten maßgeblich von diesem Druckverfahren. Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann der Maler HISHIKAWA Moronobu mit dem Druck von Einblattabbildungen in Schwarzweiß, die zwar damals - um mit farbigen Handzeichnungen berühmter Künstlerkollegen konkurrieren zu können - noch von Hand nachkoloriert werden mussten, ab den 1720er Jahren aber bereits versuchsweise mit zwei bis drei Farben, ab den 1770er Jahren dann mit einem Dutzend und mehr Farben hergestellt werden konnten. Neben Kurtisanenbildern (bijinga) waren hier vor allem Porträts von Schauspielern des neu etablierten Kabuki-Theaters (yakushae) als Sujet sehr gefragt. Die auch im Westen unter der japanischen Bezeichnung ukiyoe (zeitgenössische Bilder) bekannt gewordenen Einblattdrucke HISHIKAWAs waren dabei so günstig - damals in etwa soviel wie ein einfaches Mittagessen (Nudelsuppe) -, dass sie zum Verkaufsrenner der meisten Verleger wurden. Immer neue Künstler mussten rekrutiert werden, um der ständig wachsenden Nachfrage auch nur annähernd nachzukommen, und immer neue Ausdrucksmöglichkeiten ausgetestet werden, um längerfristig konkurrenzfähig bleiben zu können. Vor allem die große Popularität des Kabuki-Theaters, das zu dem Unterhaltungsmedium der japanischen Vormoderne avancierte, wurde hier zur alles entscheidenden Triebkraft des Marktes. Da die Konterfeis bekannter Schauspieler in ihren aktuellen Rollen längst nicht alle Bedürfnisse der Fans abzudecken vermochten, wurden bald auch illustrierte Programmhefte, anhand derer die Theaterbesucher die jeweilige Aufführung später noch einmal in Ruhe Revue passieren lassen konnten, in großem Stil gedruckt.

Und dies war erst der Anfang. Japan entwickelte sich in kurzer Zeit zu einer visuellen Kultur, in der er es nahezu nichts gab, was nicht im Bild festgehalten wurde, und in Folge immer mehr bekannte ukiyoe-Künstler mit einem immer größer werdenden Schülerkreis zukünftiger Profis und Amateure zu kämpfen hatten. Die große Beliebtheit für alles Visuelle schlug sich letztlich auch in der Literatur dieser Zeit nieder. Nicht nur dass ein genereller Zuwachs an Illustrationen in literarischen Werken aller Art zu verzeichnen war; es entstand sogar ein ganz neues Erzählformat, dass nun als Novum durchgehend illustriert war. Bei diesen aufgrund ihres disparaten Inhaltes unter dem Sammelbegriff Allerleihefte (kusazôshi) zusammengefassten Werken wurde - ähnlich wie bei den Theaterprogrammheften - der Text, d.h. Erzähl- und Dialogtext, erstmalig in die Abbildungen integriert, weshalb sie, auf den ersten Blick, durchaus wie vormoderne Manga anmuten mögen. Ein genauerer Blick in diese zwischen den 1680ern und 1880er Jahren produzierten Werke, die noch aufgrund differierender Umschlagfarbe bzw. Volumen in Rotbücher, Grünbücher und Zusammengebundene Hefte unterschieden werden, belehrt jedoch eines anderen. In den nur 5 oder 10 Doppelseiten umfassenden Rotbüchern der Jahre 1680 bis 1740 war zunächst auffällig, dass der Erzähltext, wenn überhaupt vorhanden, sehr knapp gehalten war, und der Dialogtext direkt neben die Protagonisten im Bild geschrieben stand. Ferner war augenscheinlich, dass die Illustrationen, die bereits über ein sehr umfangreiches Inventar an visuellen Metaphern, Speedlines etc. verfügten, zudem häufig in mehrere Szenen, man könnte hier auch von Subpanels sprechen, unterteilt waren. Ein genauerer Blick auf die Interaktion von Text und Bild zeigt jedoch, dass die Geschichten für sich betrachtet so defizitär waren, dass sie im Grunde genommen keine vollständige Narration bildeten. Vielmehr rekurrierten die Rotbücher auf beispielsweise allgemein bekannte Sagen, Legenden oder aber Theaterstücke, weshalb die werkimmanenten Defizite durch das Wissen um den Subtext während des Rezeptionsprozesses problemlos ergänzt werden konnten. In den ca. von 1740 bis 1810 veröffentlichten, nun 15 Doppelseiten und mehr umfassenden Grünbüchern wurde zwar die Erzählweise der Rotbücher zunächst übernommen und visuell verfeinert, doch ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte sich ein deutlicher Wandel bemerkbar. Der Erzähltext füllte nun immer mehr Freiflächen der Seite aus, während die szenische Bildaufteilung fast völlig aufgegeben wurde. Verantwortlich hierfür war ein konzeptueller Wandel auf narrativer Ebene. Mit der Einführung einer Arbeitsteilung in Texter und Zeichner wurden nämlich erstmalig auch völlig unbekannte Plots in den Allerleiheften erzählt, die jedoch bedingt durch die limitierte Seitenzahl nicht adäquat bildlich umsetzbar waren und daher eine drastische Erhöhung des Erzähltextanteils erforderlich machten. Die ehemals szenische Gleichschaltung von Text und Bild wurde aufgegeben und die Abbildung nebst Dialogtext nur zum Einfangen eines punktuellen Momentes im vom Erzähltext geschilderten Handlungskontinuum verwendet, eine Entwicklung, die ab dem 19. Jahrhundert mit den Zusammengebundenen Heften, die etliche hundert Seiten umfassen konnten, letztlich ihren Höhepunkt erreichen sollte. Hier wurde der Text, der sich harmonisch in die Bildkomposition einfügte, zu einem nuancenreichen literarischen Kunstwerk, das durch die äußerst detailreichen Bilder zwar sehr bereichert wurde, jedoch für das Verständnis des Plots nicht mehr wirklich darauf angewiesen war.

Mit den 1880er Jahren endete die Tradition des Erzählens mit Text und Bild dann vorerst. Aus Europa importierte Drucktechniken und Literaturvorstellungen drängten das Bild endgültig aus den literarischen Produkten. Erst rund vier Jahrzehnte später sollten wieder Bilder in Narrationen integriert werden, doch diesmal nicht mehr für ein erwachsenes Lesepublikum.

Japan als Bild(er)kultur: Kontinuitäten, Diskontinuitäten, Paradigmenwechsel

Wie hier in Kürze gezeigt werden konnte, ist der Exportschlager Manga, trotz flächendeckend ideologischer Überhöhungen auf japanischer Seite, weniger ein traditionelles Kulturgut, das auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblicken kann, als vielmehr ein relativ modernes Erzählformat, das erst in den 1960er Jahren seine heutige Gestalt angenommen hat. Was jedoch nicht bedeuten soll, dass in Japan früher nicht mit Text und Bild erzählt wurde; es wurde eben anders als im heutigen Manga erzählt. Wie in vielen anderen Kulturen kommt auch in Japan bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt sowohl im profanen als auch im religiösen Bereich die Illustration zur Visualisierung narrativer Räume zum Einsatz. Die Qualität des niedergeschriebenen (Erzähl-)Textes ist, wie betrachtet, dabei anscheinend verantwortlich für Quantität und Funktionalität der Illustrationen gewesen. D.h. je komplexer und vollständiger der Text ist, umso mehr wird die bildliche Information reduziert. Dies wandelt sich erst grundlegend im 17. Jahrhundert. Hier etabliert sich nun mit den Allerleiheften ein Erzählformat, das selbst mit Zunahme an Literarizität auf eine durchgehende Illustrierung der Texte nicht verzichtet, obwohl der Informationsgehalt für die Narration im Grunde genommen unbedeutend geworden ist. Verantwortlich dafür ist der sich im 17. Jahrhundert vollziehende Wandel zu einer vormodernen visuellen Kultur, in welcher der Prozess des Abbildens zu einem zentralen kulturellen Akt wird und Bilder immer stärker die Alltagswahrnehmung zu prägen beginnen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die große Rolle, die den Unterhaltungsmedien hierbei zukommt. Die dem Kabuki-Theater eigene Ästhetik, dynamische Handlungsprozesse in einem Moment der theatralischen Bewegungslosigkeit (mie) kulminieren zu lassen, hat sich nämlich unmittelbar in den Bildern der Allerleihefte niedergeschlagen. Obwohl die an der Produktion beteiligten ukiyoe-Künstler bereits ein semiotisches Formeninventar entwickelt haben, das den Vergleich mit modernen Manga nicht unbedingt zu scheuen braucht, und selbst eine modern anmutende Panelunterteilung kennen, machen sie davon nur vereinzelt Gebrauch, ein Phänomen, das wir auch bei den Bilderzählungen der 1920er und 30er Jahre beobachtet haben, nur dass hier das Papiertheater die entscheidenden narrativ-ästhetischen Vorgaben gemacht hat.

Unter dem Einfluss verschiedener performativer Unterhaltungsmedien entwickelt sich zwar so in Japan eine lange Tradition der visuellen Narrativität, bei der die Bilder als Supplement das durch den Text gesteuerte Handlungsgeschehen punktuell bereichern und ergänzen. Eine narrative Visualität aber, bei der das Handlungsgeschehen primär über die Bildinformation gesteuert wird, kann sich hingegen erst nach dem "Import" amerikanischer Comics langsam herausbilden. Der große Paradigmenwechsel im Erzählen mit Text und Bild vollzieht sich in Japan erst als Folge eines medialen Wechsels, bei dem bedingt durch die Schnelligkeit und Fülle der nun ausgestrahlten Bilder des Fernsehens die neue visuelle Narrativität des Manga sich als Erzählformat durchzusetzen und begünstigt durch die Diversifikation der Publikationsorgane die Kluft zwischen Erwachsenen- und Kinderkultur endgültig zu schließen vermag.


Copyright (c) 2008 Stephan Köhn and Verlag Sackmann und Hörndl