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Bernd Dolle-Weinkauff:
Comics und kulturelle Globalisierung
Historische und aktuelle Tendenzen

Die Manga-Konjunktur in den westlichen Ländern darf sich nach einer längeren Periode der blossen Irritation, des Ignorierens oder der geringschätzigen Einstufung als einer vorübergehenden Modeerscheinung inzwischen der ernsthaften Aufmerksamkeit der Kulturwissenschaften wie auch der Comic-Kritik im deutschsprachigen Raum erfreuen. Waren es bis Ende der 90er Jahre fast ausnahmslos einige Japanologen, die sich - gleichsam qua Amt - berufen sahen, dieses merkwürdige Phänomen einer nicht nur ökonomischen sondern auch kulturellen Invasion unter die Lupe zu nehmen, so zeigt sich mittlerweile die gesamte kulturelle und publizistische Öffentlichkeit höchst interessiert daran. Das beredte Erstaunen über eine noch vor wenigen Jahren kaum für möglich gehaltene Entwicklung und die gebetsmühlenhafte Verbreitung von Sensationsmeldungen, wie derjenigen, dass die japanische Manga-Industrie mehr Papier verbrauche als die Toilettenpapierhersteller, scheint dabei allmählich seriöseren Einlassungen zu weichen. Diese kreisen legitimerweise nicht zuletzt um die Frage nach den Gründen für die überaus große Faszination des japanischen Comic für ein weltweites Publikum und beginnen, sich mit den Traditionen, Formen und Inhalten des Manga im Usprungsland auseinander zu setzen. Diese im Grunde produktive Neugier auf das Fremde und andere droht jedoch bereits im Ansatz in die Sackgasse zu führen, wenn nicht der soziokulturelle, ökonomische und historische Kontext, ohne den das Phänomen Manga nicht existierte, ernsthaft mitreflektiert wird.

"Östliches" und "westliches" Erzählen in Bildern?

Ein Beispiel dafür ist ein umfangreicher Beitrag, mit dem Jens R. Nielsen das dem Thema Manga gewidmete Heft Nr. 44 der Reddition. Zeitschrift für Graphische Literatur einleitet und der sich - ausweislich des Untertitels - die wenig zunächst spektakulär klingende Aufgabe stellt, den Manga "von Europa aus" zu betrachten. Die Kernaussage dieses Beitrags läuft darauf hinaus, dass"Bilder in Japan ihre Geschichten grundsätzlich anders" erzählten (8) als Bilder in Europa oder anderen westlichen Regionen. Nielsen arbeitet dabei mehr oder minder assoziativ und am Beispiel eines historischen Farbholzschnitts von Ando Hiroshige aus der Mitte des 19. Jhs. (es handelt sich um eine der 100 berühmten Ansichten von Edo, die jüngst auch in einer deutschen Ausgabe erschienen sind, s. Uspenski 2005) eine von ihm so genannte "Kultur des Unsichtbaren" (9) als typisches Merkmal bildlichen Erzählens in "ostasiatischen Kulturen" (9) heraus. "Japaner und Chinesen" - so Nielsen "zeigen [...] ganz bewusst und manchmal mit viel Aufwand "Leere" und sie haben einen eigenen Regelkanon entwickelt, um ihr Ziel zu erreichen" (9). Der westliche Comic dagegen hangele sich "einer seit den Tagen Goethes und Lessings gemäßen Konvention von Transitorischem Moment zu Transitorischem Moment" (8).

Dies bedarf nun einer Erläuterung. Offenbar besteht nach Nielsens Vorstellung der Unterschied zwischen "asiatischem" und "westlichem" Erzählen in Bildern darin, dass Japaner, Chinesen etc., vorwiegend zeichenhafte Kürzel, exzentrische Bildausschnitte, angeschnittene Körper und Handlungen und eben leere Flächen verwendeten; Nordamerikaner und Europäer hingegen setzten auf Darstellung spektakulärer Aktionen und reihten am liebsten deren Höhepunkte linear aneinander (8ff). Als Kronzeugen beruft er sich dabei auf Goethe und Lessing, dessen im Laokoon (am Beispiel der antiken Skulpturengruppe mit dem trojanischen Priester Laokoon im Zentrum) entwickelte Maxime des transitorischen bzw. "fruchtbaren Moments" (Lessing 399) durch Nielsen eine verblüffende Neuinterpretation erfährt. Als Beispiel dafür, was Lessing und Goethe gemeint hätten, präsentiert er jenes berühmte Foto Robert Capas, das einen tödlich getroffenen republikanischen Milizionär im spanischen Bürgerkrieg zeigt, denn Nielsen zufolge "ist kaum ein bedeutenderer Transitorischer Moment denkbar als das Sterben, der Übergang vom Leben zum Tode" (7).


Eine zweifelhafte Analogie: Die Laokoon-Gruppe (L.) und Robert Capras "Death of a Spanish Loyalist

Eine solche Deutung des "Transitorischen" bildet für Nielsen die Grundlage der Unterscheidung von östlichem und westlichem Erzählen in Bildern. Sie beruht jedoch auf purer Assoziation und hat mit den zitierten klassischen Kunstauffassungen nichts zu tun. Betrachtet man das, was Lessing wirklich sagte, so ist kaum ein gröberes Missverständnis denkbar, als die Behauptung, die Abbildung eines finalen Todesschusses, wie Capa ihn vorführt, sei jener künstlerisch fruchtbare Moment, den Lessing gemeint hat. Im Laokoon heißt es nämlich: "Dasjenige [...] allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben." Es ist eben gerade nicht der Höhepunkt, die "höchste Staffel" (Lessing) an Endgültigkeit gemeint, denn die lässt der Imagination keinerlei Spielraum mehr. Fritz Breithaupt (2002, 43) hebt denn auch ausdrücklich hervor, dass der abgebildete Augenblick nach Lessings Auffassung "nicht auf den Höhepunkt des Ereignisses zu legen" sei, "sondern auf einen voraufgegangenen oder nachfolgenden Augenblick, den die Einbildungskraft auf den Höhepunkt hin zu überschreiten habe."

Sicher wird man auch fragen dürfen, warum Nielsen als Anschauungsmaterial für seine Behauptung ein Kriegsfoto des 20. Jahrhunderts bemühen musste und nicht ein Beispiel aus dem Bereich des Genres, auf das seine Ausführungen zielen. Denn für das, was Lessing wirklich meinte, lassen sich durchaus auch im Comic aussagekräftige Belege finden: Indessen zeigen diese gerade auch die nur begrenzte Wirkung einer klassisch-idealistischen Kunstauffassung, die Nielsen zur seit über 250 Jahren unverändert allgemeingültigen, "westlichen", erklärt.

Ein Beispiel dafür: Das große Panel, das den grafischen Höhepunkt der Seite 247 (1941) aus Fosters Prinz Eisenherz bildet, zeigt einen wahrhaft transitorischen Moment, nämlich den Helden, der im Begriff ist, ein gegnerisches Schiff zu entern. Die Bordwand der längsseits gegangenen Schiffe im Sprung nehmend, mit vorgestrecktem Schild und zum Schlag mit dem Schwert weit ausholend, stürzt er sich mitten unter die abwehrbereiten Piraten, von denen die ersten bereits zurückzuweichen beginnen. Nirgenwo im Bild sind Waffen zu sehen, die Wunden in Körper schlagen, ihr Leben aushauchende Verwundete oder Getroffene. Undenkbar, dass im Bild gezeigt wird, wie Eisenherz" Schwert einen Schädel spaltet - so viel Eindeutigkeit gilt als trivial und unkünstlerische Vorwegnahme eines Endpunkts der Handlung, von der der Betrachter eben eine eigene Vorstellung entwickeln soll.

Das nachfolgende Panel in der Geschichte zeigt denn auch nicht die Fortsetzung bzw. Entscheidung des Kampfs sondern bereits die Sieger beim Verteilen der Beute, im Hintergrund einen zufriedenen Helden, der seine Rüstung noch nicht abgelegt hat.

Natürlich finden sich im "westlichen" Comic - von Fosters Konzept erheblich divergierende - Belege für jenen actionbetonten Comic-Stil, den Nielsen eigentlich im Auge hat und generalisierend dem "asiatischen" gegenüberstellt. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich diese Strömung im wesentlichen auf die amerikanischen Superhelden-Comics und von diesen beeinflusste Werke beschränkt. Des weiteren kann man sich, - ausgestattet mit den Nielsenschen Kriterien - einmal der Leere, der zeichenhaften Verkürzung, dem bildlichen Reduktionismus einmal unter den westlichen Comics auf die Suche machen nach raffiniert getarnten "Asiaten": Man wird sehr schnell und eindrucksvoll fündig etwa bei Hugo Pratt, von dem wir bisher dachten, er sei Venezianer und bei manchem anderen.

Historische Globalisierungsströmungen des Comic

Damit ist die Hauptproblematik, um die es hier geht, jedoch keineswegs erledigt. Kann man sich ernsthaft angesichts der transkulturellen Prozesse, die sich nicht erst seit heute vor aller Augen abspielen, daranmachen, unter Berufung auf Kronzeugen aus dem 18. und 19.Jh. idealtypische "asiatische" und "westliche" Comic-Erzählstile zu bestimmen? Einmal abgesehen von der pauschalisierenden Abhandlung alles Asiatischen unter Japanern und Chinesen (was würden die Koreaner dazu sagen? die Filipinos? etc.), abgesehen auch von einem völlig amorphen Begriff des westlichen Comic, der nicht einmal Bande Dessinnée und Comic unterscheidet - muss man nicht gerade in der Geschichte des Comic Prozessen Rechnung tragen, die wir mittlerweile als kulturelle Globalisierung zu bezeichnen pflegen?

In der etwa hundertjährigen Geschichte des Comic sind die mit der Entwicklung der Gattung einhergehenden Ströme des Kulturtransfers relativ klar auszumachen. Läßt man einmal die Vorgeschichte beiseite, so steht die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ganz im Zeichen der Ausstrahlung der nordamerikanischen Comic strips und Comic books in die europäische und außereuropäische Welt. Neben ihren Medienformaten, Comic strip und Comic book, etabliert die US-amerikanische Kultur in diesem Prozess bestimmte Erzählgattungen wie diejenigen des Funny-Comic und des Adventure-Comic. Dabei treten markante Figurentypen auf, allen voran die komisch-karikaturistischen Funny Animal-Charaktere vom Schlage Mickey Mouse und Donald Duck auf der einen und die Superhelden, als die Heroen der neuen Mythen des 20. Jahrhunderts, auf der anderen Seite.

Seit Anfang der 60er Jahre gewinnt daneben ein neues, in Westeuropa, v.a. im frankophonen Sprachraum beheimatetes Produktionszentrum an Einfluss und Ausstrahlung, dessen Kern die Schulen der "Ligne claire" und der "École Marcinelle" bildeten, die sich jedoch im Lauf der Zeit in eine große Zahl von Stilen und Erzählweisen auffächerten. Dies gilt auch insbesondere für das Grundmodell dieser Strömung, die sogenannte semi-realistische Variante der Bildgeschichte bzw., wenn die Komisierungstendenzen stärker durchschlagen, den Semi-Funny. Dieses ist, ausgehend u.a. von Tintin und Astérix, sehr viel mehr als eine bloße Stillage, es ist die Quelle vieler Konzepte der graphisch-erzählerischer Bildgeschichten und es erlaubt bei zahlreichen neueren Werken eine Zuordnung zum westeuropäischen Comic-Typus, obgleich diese oft nicht im engeren Sinne als Repräsentationen des Semi-Funny oder der Ligne claire einzustufen sind. Das typische Medienformat dieser Strömung ist das broschierte oder fest gebundene Buch, dessen Bezeichnung "Album" im Französischen völlig zu recht synonym ist mit "Bilderbuch".

Mit Beginn der 90er Jahre etabliert sich dann von Fernost ausgehend eine dritte Strömung, deren Einfluss bis in die Gegenwart nicht nur anhält, sondern weiterhin im Wachsen begriffen ist. Der japanische Manga, erreicht eine nach Millionen zählende Leserschaft nicht nur im Ursprungsland und im benachbarten asiatischen Raum. Dragon Ball von Akira Toriyama gilt als die weltweit meistverkaufte Comic-Publikation aller Zeiten. Alleine in Deutschland erscheinen derzeit monatlich 50 bis 60 neue Manga-Bände, die gesamte Comic-Produktion wird von der Titelzahl wie auch im Hinblick auf die Auflagenhöhen von Comics japanischer Herkunft dominiert. In den USA und vor allem in Europa hat er sich als neues Gattungsmuster eingeführt, dessen Rezeption mit einem der Amerika-Begeisterung der 50er Jahre durchaus vergleichbaren Boom japanischer Kultur einhergeht. Was in den 50er Jahren Coca Cola, Jeans und Rock'n Roll bedeutete, wird in der Gegenwart in gewisser Weise von Sushi, Cosplay und J-Pop repräsentiert. Charakteristisches Medium des im europäischen Raum verbreiteten Manga wiederum wurde das Taschenbuch (jap. Tankobon), wobei festzuhalten bleibt, dass die hierzulande gängige Form des Sammelbands im Ursprungsland bereits ein Sekundärmedium darstellt, da die Episoden zuvor in Periodika, an bestimmte Zielgruppen gerichtete Magazine, zu erscheinen pflegen.

Diese grobe Skizierung der Tendenzen lässt vielerlei Differenzierungen der Entwicklung im Interesse einer Hervorhebung der Grundlinien außer acht. Sie impliziert auch unter anderem unterschiedlich starke Einflüsse der Strömungen in unterschiedlichen Regionen. So ist etwa der Einfluss des frankobelgischen Comic in den USA erheblich geringer als beispielsweise in Deutschland. Auch ist diese Skizze der Entwicklungstendenzen nicht als ein historisches Stufenmodell anzusehen, bei dem das jeweils neuere die älteren vollständig ablöst und ersetzt. Vielmehr ist in allen Fällen eine mehr oder minder ausgeprägte Koexistenz der unterschiedlichen Strömungen festzustellen, wobei allerdings den innovativen Strömungen jeweils eine Vorreiterrolle zufällt. Als bedeutsam ist jedoch zunächst festzuhalten, dass sich der gegenwärtige Prozess der "Mangafizierung" der internationalen Comic-Kultur seiner Form und seinen Bewegungstendenzen nach durchaus in Bahnen bewegt, die in vergangenen Perioden der Gattungsgeschichte vorgezeichnet sind.

Globalisierung und Synkretismus

Was in Deutschland und den anderen europäischen Ländern gegenwärtig als Comic japanischer Herkunft entgegentritt, ist selbst in weiten Teilen das Produkt einer Rezeption amerikanischer und europäischer Einflüsse seit Beginn der 50er Jahre. Der weitaus größte Teil der Manga, die derzeit im deutschsprachigen Raum verbreitet sind, entstand - oder wenn es sich um umfangreichere Serien handelt: begann - in den 80er und 90er Jahren. Dies bedeutet, dass weder das klassische Repertoire der modernen japanischen Comics, das sich unter der Ägide Osamu Tezukas mit dem Beginn der 50er entfaltete, für die gegenwärtigen deutschsprachigen Übersetzungen eine Rolle spielt noch die allerneueste japanische Produktion. So finden sich zwar mit Tezukas "Astro Boy" (jap. 1951) oder "Lady Oscar" (jap. 1972) von Riyoko Ikeda Serien im Angebot, deren Entstehung über fünfzig bzw. dreißig Jahre zurückliegt, und die für die Genese des japanischen Comic von epochaler Bedeutung sind. Sie schwimmen jedoch eher im Strom des Angebots mit, richten sich an ein spezifisches Publikum mit nostalgischen Interessen und rechnen gewiss nicht zu den Bestsellern. Man kann daraus schließen, dass der japanische Comic selbst eine Entwicklung durchmachen musste, um Angebote zu entwickeln, die über das Ursprungsland hinaus und im europäischen Raum Interesse finden konnten. Dieser Entwicklungsstand ist etwa zu Beginn der 80er Jahre erreicht, und er hat etwas mit dem bis dahin erreichten Verarbeitungsgrad fremder, d.h. europäischer und US-amerikanischer Einflüsse seitens der japanischen Kulturindustrie wie auch der Ausformung japanisch-kulturspezifischer Gattungselemente zu tun.

Der japanische Comic hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit großer Intensität darstellungsästhetische Verfahren, graphische Konventionen, Motive, Stoffe und Themen aus vielerlei fremden Kulturen und Literaturen aufgenommen und in die eigenen Produktionen eingearbeitet. Die heute als so typisch japanisch geltenden tellergroßen Augen und kindlichen Proportionen gehen auf das vor über einem halben Jahrhundert in Japan grassierende Disney-Fieber zurück. Die Rezeption der europäischen Tradition spielt in diesem Zusammenhang seit langem ebenfalls eine bedeutsame Rolle. Der Manga stellt sich daher in der Gegenwart als eine üppige Ansammlung von Versatzstücken und Elementen der kulturellen und literarischen Überlieferung im Weltmaßstab dar, die mit eigenkulturellen japanischen Elementen amalgamiert wird. Die Frage nach dem spezifisch japanischen Anteil daran sollte dabei nicht auf die Identifizierung fernöstlich anmutender Details verengt werden - denn es scheint, dass es gerade dieses Amalgam - besser gesagt: das Prinzip des Synkretismus - ist, welches diese Texte in unseren Augen als "typisch japanisch" ausweist. Denn es handelt sich, wie Jaqueline Berndt zu recht feststellt, bei den einschlägigen Angeboten, die im europäischen Raum seit einiger Zeit als als "typisch japanisch" gelten letztlich um "eine global bewegliche ästhetisch-kulturelle Mixtur, die tendenziell auf Kosten von Lokalspezifik geht, zugleich aber Nationalisierungen unterläuft und gerade damit zur Plattform für den Austausch zwischen Jugendlichen unterschiedlichster Herkunft werden kann" (2006, 130).

Der Glaube, hier eine genuine japanische Kunstform, den ganz anderen asiatischen Comic oder wie Nielsen sich ausdrückt, die "anderen Augen" in Reinkultur vorfinden zu können ist eine Chimäre. Fremd - und eigenkulturelles geht im Manga bereits seit langem eine innige Verbindung ein, die anscheinend bereits von den Lesern in Fernost selbst nicht mehr als Kompositum wahrgenommen wird. Fremd- und gemischtsprachige Serientitel wie "Full moon wo sagashite" (Arina Tanemura) oder "Saint Seiya Episode G" (Masami Kurumada) mögen dafür nur ein äußeres Anzeichen sein. Nirgendwo sonst werden Elemente fremdkultureller Herkunft, nicht zuletzt auch religiöse und esoterische Vorstellungen, derart unbefangen rezipiert, vermischt und integriert wie im neueren japanischen Comic. Insbesondere das in der Lesergunst besonders hoch stehende Genre der Fantasy liefert zahllose Belege dafür. Man braucht z.B. nur eine so populäre Serie wie Kaori Yukis "Angel Sanctuary" (jap. Tenshi Kinryou Ku, seit 1995) aufzuschlagen, um sogleich mit den kühnsten Mixturen von Motiven und Figuren aus den Mythen und Religionen verschiedener Zivilisationen konfrontiert zu werden (s. Dolle-Weinkauff 2005, 102f). Islamische und christliche, wie auch jüdische, buddhistische und hinduistische Komponenten werden ohne Skrupel miteinander verwoben, Fabelwesen und Weltvorstellungen aus den unterschiedlichsten literarischen, historischen und spirituellen Quellen rekonstruiert - ein Zug der sich über die Manga hinaus bis hinein etwa in die weltbekannten Filme Hayao Myazakis verfolgen lässt, von denen die Japanologin Lisette Gebhardt sagt, dass sie "eine üppige west-östliche Ausstattung" zeigen.

Zwar lässt sich an der Vermischung mythologischer, religiöser und esoterischer Phänomene die synkretistische Praxis des Manga besonders eindrucksvoll verdeutlichen, da hier erkennbar wird, dass die Autoren im Hinblick auf Tabus und Sakrilegien völlig unbefangen agieren. Doch beschränkt sich diese keineswegs auf spirituelle Dimensionen. Manga adaptieren und integrieren fremde Alltagsphänomene aller Art ebenso wie kulturelle, sprachliche, literarische, ökonomische und soziale Erscheinungen. Sie erweisen sich damit in gewissem Sinn als eine Literatur der kulturellen Globalisierung, d.h. dem Umstand der mittlerweile weltweiten Rezeption entspricht eine strukturelle und inhaltliche Ausformung, die ohne den Rückgriff auf die zahllosen fremdkulturellen Topoi nicht denkbar wäre. Dies darf jedoch nicht zu dem Schluss verführen, es handle sich bei Manga um Produktionen, die gezielt für den weltweiten Export hergestellt würden. Das Erfolgsrezept des Manga, das im Ursprungsland ebenso attraktiv ist wie im Ausland, ähnelt dabei wohl demjenigen, das von einigen deutschen Literaturtheoretikern der Pop-Literatur zugeschrieben wird. In Anlehnung an ein Diktum Rolf Dieter Brinkmanns (Schäfer 2003, 69), meint etwa Moritz Baßler, es sei ein Grundmerkmal von Pop-Literatur, aus vorhandenem "archivierten" (Baßler 2002) Material ein neues, der populären Kultur zugehöriges Konstrukt zu generieren.

Glokalisierung

"Within the cultural dynamics of trans-national range any phenomena don't occur independently from each other or autonomously: on the contrary, it turns continuously out to be a variety of rhizomatic links among the most various fields of entertainment, of industry, of technology, of the narrative forms."(Marco Pellitteri, Mass Trans-Culture from East to West, and Back, 2004).

Kulturelle Globalisierung, so legt auch diese These des italienischen Medienwissenschaftlers Marco Pellitteri nahe, sollte nicht verstanden werden als gleichsam imperialistische Ausbreitung von Kulturmustern, die ausgehend von einem bestimmten Zentrum dem Rest der Welt einseitig aufgepfropft werden. Vielmehr rufen globalisierende Tendenzen im Zuge ihres Eindringens in neue Regionen bzw. Kulturbereiche eine Dialektik von Abgrenzung und Aneignung hervor, die in eigenkreative Schöpfungen übergeht, die wiederum nach außen weitergegeben werden. In Anlehnung an den englischen Soziologen Roland Robertson ist für dieses Phänomen in der sozialwissenschaftlichen Fachdiskussion seit Anfang der 90er Jahre der Begriff der "Glokalisierung" aufgekommen (s. z.B. Robertson 1998). Nicht zufällig hat die deutsche Kultursoziologie sich dabei auf Entwicklungen der Pop-Musik in den letzten 20 Jahren bezogen als Beleg für Transferprozesse, die ausgehend von der Rezeption anglo-amerikanischer Musikstile die sogenannte Neue Deutsche Welle hervorgebracht haben:

"Während sich "deutsche" Befindlichkeit bis in die 70er Jahre eher in der "Volksmusik"-, [Schlager, - D.W.], oder Liedermacher-Tradition ausdrückte, wurde nun in der Aneignung der 'westlichen' Musikstile für den eigenen Bedarf etwas Neues geschaffen, das als solches nun wiederum Chancen hatte, in der globalisierten Kultur wahrgenommen zu werden. So verkauften sich, nach einer wieder umgekehrten Transferierung ins Englische, zum Beispiel Falco, Nena und Peter Schilling [zu ergänzen wäre: Rammstein, - D.W.] sogar in den USA als "deutsche Musik" (Zwierlein 2004, 1).

Die o.g. Ausführen zur Entwicklung des Manga in Japan beschreiben genau diese glokalisierende Tendenz in Fernost und deren Wirkungen. Mit dem Eintreffen des Manga in Westeuropa setzt sie sich hierzulande mit eigenen Entwicklungen fort.

Noch bis Ende der 90er Jahre hat sich der deutschsprachige Manga-Import stark an den nord-amerikanischen und in einem geringeren Maß an den Angeboten anderer europäischer Länder orientiert. Viele der Übersetzungen aus dieser Zeit stammen aus dem (Anglo-)Amerikanischen, in kleinerem Umfang auch aus dem Französischen und Italienischen. Vor allem aber haben sich die deutschen Verlage in den frühen 90er Jahren die Medienformate des US-Marktes aufdrängen lassen, inklusive einer Aufgabe der japanischen Leserichtung und eines seitenverkehrten Nachdrucks der Originalgeschichten (Dierks 2002). Es dürfte kein Zufall sein, dass die Publikation der japanischen Comics in Deutschland zu dem Zeitpunkt einen enormen Aufschwung erzielte, als man begann, sich von den Vorgaben des nordamerikanischen Mark-tes zu lösen, mehr eigene Übersetzungen zu veranlassen und vom Comic book-Format zum Taschenbuch überzugehen. Interpretiert man die Ausführungen Ralf Vollbrechts, der - bezogen auf die Situation etwa im Jahr 1997 - einen ersten grundlegenden Beitrag zu Einfluss und Entwicklung des Manga vorgelegt hat (Vollbrecht 2001), so stellt sich der Eindruck ein, dass der nordamerikanische Markt im Hinblick auf die Akzeptanz fremdkultureller Produkte erheblich zurückhaltender einzuschätzen ist als beispielsweise der deutsche. Wie dem auch sei ­ die Loslösung vom nordamerikanischen Vorbild stellte für die deutschsprachigen Verlage einen Schritt zur Öffnung der Programme für eine weitgehende Übernahme fremdkultureller Topoi in Inhalt und Form dar, wie auch - als dessen Folge - ein äußerst gewinnträchtiges Erfolgsrezept.

Auffallend ist im übrigen der sich abzeichnende Wandel im Bereich der paratextuellen Gestaltung übersetzter japanischer Comics. Der mit der Durchsetzung der japanischen Leserichtung einhergehende Hang zur Exotisierung in Form einer Orientierung an Vorbildern aus Fernost im Coverdesign, von immer häufiger auftretenden japanischen Titeln und der fast zur Regel gewordenen Ausstattung mit großformatigen Kanji (s. Abb. oben) stehen Ansätze einer Neuorientierung gegenüber. Insbesondere der in den letzten beiden Jahren überaus erfolgreiche Verlag Tokyopop lanciert immer mehr Publikationen mit deutschsprachigen Titeln auf den Markt (s. Abb. unten). Es dürft nur eine Frage der Zeit sein, wann die anderen Marktführer nachziehen.

Sehr deutlich zeigt sich auch die Tendenz des eigenständigen Um- und Ausbaus der fernöstlichen Strömung bei den Zeichnern und Autoren von Manga aus deutscher Produktion: Bereits 2004 konnte z.B. das Fachorgan Comixene mit einem zehnseitigen Report über Manga aus Deutschland aufwarten. Die Parallelen zu einschlägigen Entwicklungen in der Pop-Musik wie zu früheren Phasen des Comic-Imports, in denen die neuen Stile amerikanischer bzw. franko-belgischer Herkunft begeistert imitiert wurden, sind offenkundig. Anfangs mehr oder weniger als Kopisten oder vielleicht als Fans, deren eigene Versuche bei weitem nicht an die mühsam gecoverten Vorbilder heranreichen belächelt, haben sich die deutschen Mangaka zu einer Größenordnung aufgeschwungen, die durchaus Ernst zu nehmen ist. Ca. zwei Dutzend sind es zur Zeit, darunter ein hoher Anteil junger Frauen, die bei den großen Verlagen mit eigenen Buchpublikationen oder bereits Serien vertreten sind (s. Abb. unten). Gegenüber den Anfängen ist bei manchen eine deutlichere eigene Handschrift zu erkennen, erzählerische und satirische Qualitäten, die in das Angebot teilweise Züge hineintragen, die ganz und gar nicht mehr auf japanische Einflüsse zurückgehen und gleichsam neue Standards setzen. Dazu gehört auch, dass deutsche Manga inzwischen ihre Handlung nicht mehr unbedingt in japanischen Kulissen abspielen lassen müssen, sondern bisweilen dazu übergehen, heimatliche Schauplätze verwenden.

Dabei steht zunächst nicht die Frage im Vordergrund, ob hier große Kunst entsteht, sondern ob ein kultureller Paradigmenwechsel von der reinen Imitation hin zur kreativen Verarbeitung eintritt. So sehr gerade in diesem Punkt Misstrauen angebracht sein mag gegenüber bestimmten Medien, die sich gerne darin gefallen, heute die eine Mode zu propagieren und morgen die andere: bisweilen werden hier doch Strömungen und Stimmungen widergespiegelt, die einen authentischen Kern zu besitzen scheinen. In diesem Kontext fällt auf, wie sich etwa binnen weniger Jahre die Diskurse eines Organs wie des KulturSPIEGEL mit Blick auf Manga in Deutschland wandelten. So wussten im Juli 2002 die ungenannten Autoren eines mit "Liebesgrüße aus Tokio" betitelten Beitrags v.a. von deutschen Mädchen zu berichten, die "ganz wild auf japanische Sex-Comics" seien; im Blick waren hier nur die Rezipienten in Gestalt weiblicher Fans, die sich lustvoll am Fremd-Frivolen aus einer ganz anderen Welt laben. Ganz anders die Septemberausgabe von 2005, die deutlich auf die inzwischen stattgefundene "glokale" Wende reagiert. Hier behandelt Jörg Bockem, ohne auf die bemüht-erotischen Untertöne verzichten zu können, die "Stripperinnen" (gemeint sind die weiblichen deutschen Mangaka) als die Stars einer neuen Ankunftsliteratur westlicher Prägung und lässt die staunende Öffentlichkeit nun wissen: "Manga-Zeichnerinnen machen aus dem Alltag deutscher Mädchen abenteuerliche Geschichten" und bescheinigt der jungen deutschen Manga-Kultur Konkurrenz- und Exportfähigkeit, die Möglichkeit zu Global Players aufzusteigen, denn: "Deutsche Comic-Zeichnerinnen übertreffen ihre japanischen Vorbilder".

Literatur

Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: Beck 2002
Berndt, Jaqueline: Manga für Erwachsene. Maruo Suehiros vampyristische Nostalgie. In: Stefanie Diekmann/ Matthias Schneider (Hg.): Szenarien des Comic. Helden und Historien im Medium der Schriftbildlichkeit. Berlin: Sukultur 2006, 129--142
Breithaupt, Fritz: Das Indiz. Lessings und Goethes Laokoon-Texte und die Narrativität der Bilder. In: Michael Hein u.a. (Hg.): Ästhetik des Comic. Berlin: Erich Schmidt 2002, 37-50
Bockem, Jörg: Die Stripperinnen. Deutsche Comic-Zeichnerinnen übertreffen ihre japanischen Vorbilder. In: KulturSPIEGEL (2006), Nr. 9, 9-11 Craig, Timothy (Hg.): Japan pop! Inside the world of Japanese popular culture. Armonk, N.Y.: M. E. Sharpe 2000
Dierks, Andreas (2002): "Kopiere nicht die Amerikaner!" Interview mit Georg F.W. Tempel (EMA). In: Ihme, Burkhard (Hrsg.): Comic-Jahrbuch 2003. Stuttgart: ICOM 2002, 134-139
Dolle-Weinkauff, Bernd: Manga - eine Literatur der Globalisierung?. In: Kinder- und Jugendliteraturforschung 2004/2005. Frankfurt u.a.: Lang 2005, 99-109
Gebhardt, Lisette: Zarte Unschuld rettet Japan. Miyazaki Hayaos erfolgreichster Trickfilm - Sen to Chihoro no kamikakushi. http://www.japanologie.uni-frankfurt.de/forschung/. - 5.1.2004 Manga aus Deutschland. In: Comixene (2004) H. 76, 6-15
Nielsen, Jens. R.: Mit anderen Augen: Der Manga, von Europa aus betrachtet. In: Reddition (2006), H. 48, 4-21 Liebesgrüße aus Tokio. Deutsche Mädchen sind ganz wild auf japanische Sex-Comics. In: KulturSPIEGEL (2002), Nr. 7, 20-23
Pellitteri, Marco: Mass Trans-Culture from East to West, and Back. In: The Japanese Journal of Animation Studies 5 (2004), No. 1, 19-26
Robertson, Roland: Glokalisierung.: Homogenität in Raum und Zeit. In: Ulrich Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp 1998, 192-220
Schäfer, Jörgen: "Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen." Rolf-Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur. In: Arnold, Heinz-Ludwig/Schäfer, Jörgen (Hrsg.): Pop-Literatur. Text+Kritik-Sonderband. München: text+kritik 2003, 69-80 Uspenski, Michail (Hg.): Hiroshige. Hundert Ansichten von Edo. London: Scirocco 2005
Vollbrecht, Ralf: Manga & Anime. In: Aufenanger, Stefan u.a. (Hrsg.): Jahrbuch Medienpädagogik 1. Opladen: Westdeutscher Verlag 2001, 441-463
Zwierlein, Cornel: Die 80er als Globalisierungsphänomen aus kommunikationsgeschichtlicher Perspektive. In: Parapluie (2004), 18, 1-9 [Internetpublikation http://parapluie.de/archiv/epoche/global/)


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